Ein seltsames Protokoll

Teil 2 der mehrteiligen Serie zum zwanzigjährigen Bestehen der Page und zum zehnjährigen Bestehen von SinnerSchrader. Teil 1: Computersozialisierung bei Horten
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Im Herbst 1984 begann ich zu schreiben und gründete mit drei Schulfreunden eine überregionale Schülerzeitung, die wir an zwanzig Hamburger Gymnasien frei verteilten. (Erstaunt entdeckten wir als 16jährige, dass der Fortdruck quasi nichts kostet, Anzeigenkunden aber dankbar für die zehnfache Auflage das Dreifache zahlen.) Den Mengentext produzierten wir mit Vizawrite auf meinem C64 und einem 9-Nadeldrucker, dessen Schriftbild dank Carbonfarbband und Runterskalieren am Fotokopierer um eine DIN-Stufe die Grenze des Zumutbaren streifte. Der Rest des Layouts bestand aus Letraset-Rubbelbuchstaben, anarchistischen Comics und drei Tuben Fixogum. Über Nacht wandelte sich meine Daddelkiste zum Publishing-Werkzeug.
Eine meine ersten Reportagen führte mich in eine Eimsbütteler Souterrain-Wohnung. Hier lernte ich Wau Holland, den damaligen Präsidenten des Chaos Computer Clubs, kennen und er schenkte mir die Hackerbibel, nachdem ich einen Zehnmarkschein in seine Kaffeebüchse (oder die des Clubs – ich konnte es nie herausfinden) gefaltet hatte. Die Hackerbibel hielt Wort und enthielt tatsächlich eine Offenbarung: eine Anleitung zum Bau eines Akustikkopplers. Für – damals lächerliche – 800 Mark an Materialkosten konnte ich meinen C64 über Muffen aus dem Sanitärfachhandel mit dem blauen Miettelefon (es gab damals daneben nur noch graue, grüne oder weinrote) der Post verbinden und war „drin“. Bei guter Verbindung konnten wir mit 300 Baud unglaubliche 40 Zeichen pro Sekunde übertragen – ich fragte mich, ob wir uns jemals soviel zu sagen haben würden.
Wir hatten. Die Szene wuchs rasend schnell. Wir schrieben einfache Mailbox-Programme für unsere Rechner, koppelten sie zu Netzen und statt Spiele tauschten wir nun Foren aus – es war das alte Spiel: Jeder wollte die meisten Foren/Bretter/Boards auf seinem System „hosten“ und mit anderen tauschen. Wir verknüpften das Z-Netz mit dem Maus-Net, dieses mit Fido und alle wollten möglichst schnell auch die Usenet-Inhalte aus den Staaten verbreiten, doch das lief nur auf unerschwinglichen Unix-Systemen und auf einem seltsamen Protokoll, das sich Internet nannte.
Ehrensache, dass es dann ab 1985 von unserer Schülerzeitung auch eine Mailbox-Version gab. Sie war „Public Domain“, heute würde man Open Source sagen, und statt GIFs gab’s ASCII-Art. Als in Tschernobyl im April 1986 die Graphitköpfe kritisch wurden, titelten wir in unserer Zeitung „Atomares Alpenglühen“ und verteilten die wöchentliche Strahlenmessung der Bodenbelastung, die wir aus dem Netz saugten, per E-Mail an die Schulsprecher unserer Stadt zwecks Aushang. Dem „Hamburger Abendblatt“ trauten wir nicht. Unsere Rechner verwandelten sich schrittweise vom Werkzeug zum Medium.
Fortsetzung folgt

Next 10 Steps

Vier Tage später.
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  1. Zwischenzeitlich war next10years bei Technorati sogar auf Platz 1.
  2. Für alle, die am Donnerstag im falschen Track waren: Johnny Haeusler live at Next 10 Years. Demnächst auch als Video.
  3. Die Kongressnachberichterstattung werde ich in den nächsten Tagen nach nebenan verlegen.
  4. Heute kommt dann auch der lang ersehnte zweite Teil der mehrteiligen Serie von Matthias Schrader zum zwanzigjährigen Bestehen der Page und zum zehnjährigen Bestehen von SinnerSchrader. Wer sich bis dahin langweilt, kann ja den ersten Teil nachlesen.
  5. Lukasz Gadowski hat ein neues Blog namens Gründerszene, das sich – nomen est omen – mit der neuen Gründerszene in Deutschland beschäftigt.

It’s Entertainment

Der Tag danach. Knapp zwei Stunden Schlaf.
Blogger (wie auch Kongress- und Partyveranstalter) sind in der Entertainmentbranche tätig. Es ist völlig egal, was und worüber sie schreiben, solange es nur halbwegs unterhaltsam ist. Wem das nicht vorher klar war, der hat es spätestens verstanden, als Johnny Haeusler in Track I zur Klampfe griff und London Calling (The Clash) vortrug – das Intro vom Spreeblick-Podcast.
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Schön auch der Dialog im Veranstaltersprechfunk: „Was geht denn da soundmäßig gerade in Track I ab? – Ach, das ist nur eine Musikdemo.“
ix dazu:

johnny fing dann plötzlich an gitarre zu spielen und zu singen: „london calling“. danach erklärt er, der song hätte 4 akkorde und viel mehr einfluss auf die menschen gehabt, als 1000 powerpoint-präsentationen. fakt ist, dass als johnny gespielt hat mehr leute die veranstaltung verlassen haben, als bei jeder powerpoint-präsentation vorher.

Aber das war ja Teil des Konzepts, und außerdem kamen auch zehn neue Leute aus den anderen Tracks, als sie die Musike hörten. Wo gesungen wird, da lass dich ruhig nieder.
Jürgen Siebert meint im Fontblog:

Das kam gut an, war auch eine willkommene Abwechslung nach 2 Stunden Dampfplauderei. Irgendwie erinnert mich Johnny an Reinhard Mey, wenn er hektisch seinen Bürstenschnitt-Kopf ins Profil dreht, plötzlich verbal und körpersprachlich umdisponiert von Opposition auf Ich-versteh-dich-gut … den Blick meist scheu zu Boden gerichtet.

Eine große Fotoreportage, gewohnt böse, aber trotzdem lustig, bei Thomas Knüwer, dem Unbestechlichen:

Gestern in Hamburg habe ich mich gefühlt, wie in ein solches Raum-Zeit-Kontinuum geworfen. Oder besser in ein Spirit-Geld-Kontinuum, in dem einer gesagt hat, dass er unheimlich viel Lust hätte, mal wieder ein Unternehmen zu gründen, ein anderer, dass er unheimlich viel Lust hätte mal wieder ein wenig Geld in den Sand zu setzen – und gemeinsam versuchen sie eine Idee aus den USA zu kopieren.

Kein Blog, aber trotzdem nicht ohne Einfluss, auch auf den Traffic, was Detlef Borchers bei heise schreibt:

Unter den geladenen Referenten überzeugte Nico Lumma, der Lokomotivführer von Lummaland und Macher von Mabber mit einer sanften Attacke auf die Scheinriesen der Großkonzerne und einem Plädoyer für offene APIs sowie Mashups, die alle Entwickler nutzen können.

Ob Basecamp, ob Mabber, ob Zimbra und seine Zimlets, Google und seine Maps die Anwender weiterhin wirklich die nächsten 10 Jahre lang begeistern können, das wusste niemand so genau. Dass etwas passieren muss, war auch dem letzten Geburtstagsgast klar, als der Microsoft-Sprecher Ulrich Eitler seinen Tablet-PC neu booten musste.

Oliver Gassner berichtet in Telepolis. Sein Foto von Dieter Rappold ist ein echter Hingucker. Kernsätze:

rappold.pngEs ist ein „Clash of Cultures“, Netizens und Business versuchen sich mit einer Art rudimentären Lingua Franca auszutauschen, aber während die einen immer nur nach dem Geschäftsmodell fragen und der Skalierbarkeit, reden die anderen von Nischenthemen, von Citizen Media, von Storytelling und – wie der Macher des Bilderdienstes 23hq.com, Thomas Madsen-Mygdal – davon, dass die neuen Dienste den Menschen das wiedergeben, was ihnen die Fließbänder genommen haben: eine Kommunikationsgemeinschaft, die nicht nur aus Konsumenten besteht sondern Gespräch und Reaktion ermöglicht.

Das Internet sieht nur aus wie ein Netz aus Computern. Es ist ein Netz aus Menschen. Es sieht nur so aus, als sei es aus Geld und Technik gemacht. Es besteht aus den Gesprächen von Einzelnen, die sich zusammenfinden. Web 2.0 sieht nur so aus wie einen neue Technik mit neuen Geschäftsmodellen. Es will aber eigentlich eine alte und neue Denkweise sein, das Web vor dem Kommerz und das Web mit einem menschlicheren Kommerz. Daher die Sprachprobleme der einen mit den anderen.

Eine große Zusammenfassung mit vielen Links zu noch mehr Blogs hat haben Katharina Schnitzer und Mike Schnoor gebaut.
Holger Schmidt in der FAZ von morgenMontag:

Im Internet herrscht wieder Goldgräberstimmung. Überall basteln kleine Teams an neuen Geschäftsmodellen, während die Frühstarter schon ihre Börsengänge vorbereiten und die Risikokapitalgeber das große Geschäft wittern. „Allein drei Teams arbeiten daran, die Community MySpace.com in Deutschland nachzubauen“, sagte OpenBC-Gründer Lars Hinrichs beim Internet-Kongreß „Next10Years.com“ in Hamburg.

Wird fortgesetzt. Fortsetzung nebenan